Ideokinese

Durch Vorstellungskraft beweglich werden

"Die Bezeichnung Ideokinese hat der amerikanische Klavierlehrer Bonpensiere geprägt, der in den zwanziger und dreißiger Jahren letzten Jahrhunderts populär war. Bonpensiere machte in seinem Klavierunterricht von bildhaften Vorstellungen Gebrauch und bildete des Wort Ideokinese aus zwei griechischen Wörtern, ideo (Idee oder Gedanke) und kinesis (Bewegung), um seine Unterrichtsmethode zu beschreiben. [...] Ideokinese grob als 'das Bild oder der Gedanke als Förderer der Bewegung' übersetzen." Ideokinese - Ein kreativer Weg zu Bewegung und Körperhaltung; André Bernard, Ursula Stricker, Wolfgang Steinmüller; Huber Verlag; 2011; S. 12

Der Grundgedanke der Ideokinese wurde von verschiedenen Körpertherapeuten, wie z.B. Mabel E. Todd, Dr. Lulu Sweigard oder Barbara Clark, weiterentwickelt. Auch die Franklin-Methode, benannt nach dem Gründer Eric Franklin, basiert auf den Ideen der Ideokinese.

"Je präsenter wir während einer Bewegung sind, desto mehr Beweglichkeit haben wir zur Verfügung. Verfolgt man während einer Bewegung mit dem inneren Auge die Stellungsänderungen im Körper, hat man mehr Möglichkeiten, diese Bewegung präzise zu steuern. Das bewusste Mitverfolgen/Spüren der Gelenkereignisse während einer Übung verbessert die Beweglichkeit, weil das Nervensystem durch diese bewusste Unterstützung zu einer verfeinerten Bewegungskontrolle gelangt. Dies spart uns im Endeffekt viel Zeit, weil die neugewonnene Beweglichkeit im Gehirn verankert und zu einem permanenten Zustand wird." S. 32

"Die Muskeln passen sich der Bewegungsvorstellungen des Menschen an. Lockere, fließende Muskelbewegung soll jedoch nicht mit Schlaffheit verglichen werden. Im Gegenteil, viel Kraft liegt im Flüssigen, wie uns jeder Tai-Chi Meister erklären würde, …" S. 36

"Kinästhetische Vorstellungen nehmen wir im Körper wahr, als würden sie tatsächlich vorhanden sein. Und so kann die Vorstellungskraft sich im Körper ausbreiten wie eine Welle im Meer und das Gewebe beeinflussen. Schon der Gedanke an das Bewegen eines Armes erzeugt eine Änderung in der Muskelspannung der entsprechenden Muskeln. Aufmerksamkeit erzeugt Veränderung." S. 45

Locker sein macht stark - Wie wir durch Vorstellungskraft beweglich werden, Eric Franklin, Kösel, 1998


意- yì - Vorstellungskraft

Auch in den chinesischen inneren Künsten, wie z.B. Taijiquan, Qigong oder Yiquan, werden Vorstellungen und Bilder verwendet. Der Begriff dafür ist 意- yì (Erläuterung s. u.). So findet sich z.B. in einem klassischen Text des Taijiquan, dem "Lied der 13 Grundbewegungen", der Satz: "Yi und qi als Herrscher – Knochen und Fleisch als Untertan." yi 意 (Vorstellungskraft) bewegt das qi 氣 und damit li 力 (Muskelkraft). Ein weiterer klassischer Text lautet: 用 意 不 用 力 - yòng yì bù yòng lì – gebrauche Vorstellungskraft "yì" nicht gebrauche Körperkraft "lì". Ein anderer Taijiquan Klassiker besagt: "Sobald eins sich bewegt, gibt es nichts, das sich nicht bewegt". Angestrebt wird die Einheit von Körper und Geist, d.h. durch die Einbeziehung mentaler Prozesse bei körperlichen Aktivitäten werden fragmentierte Bewegungsmuster verbunden und eine einheitliche Geist-Körper Struktur entwickelt. Durch die gedankliche Vorstellung und die bewusste Wahrnehmung von Bewegung im Körper werden Fehlspannungen gelöst und innere Kraft entwickelt.

Wie die meisten chinesischen Begriffe kann auch 意- yì nicht direkt übersetzt werden. Mögliche Übersetzungen: Meinung, Idee, Bedeutung, Absicht, Sinn, Wunsch, Verlangen. Im Rahmen der inneren chinesischen Künste wird oft "Vorstellungskraft" als Übersetzung verwendet. Die obere Komponente des Schriftzeichens ist 音 yīn Klang, die untere Komponente ist 心 xīn Herz. Ursprüngliche Bedeutung: Klang des Herzens, Gefühle oder Gedanken des Herzens oder "was das Herz fühlt". Allerdings ist zu beachten, dass der Begriff "Herz" in der chinesischen Kultur zum Teil anders verstanden wird als in unserer westlichen Tradition (mögliche Übersetzungen: Herz, Gefühl, Denken, Emotion, Innerlichkeit, Verstand, Sinn, Kern, Zentrum).


Biotensegrity (Biotensegrität)

visual representation and kinesthetic awareness

Die moderne Faszien (Bindegewebe) Forschung liefert mittlerweile Hinweise darauf, wie mentale Vorstellungen und Bilder auf den Körper wirken könnten. Stephen M. Levin und Danièle-Claude Martin beschreiben mit dem Begriff Biotensegrity (Biotensegrität) die Mechanik der Faszien als ein dynamisches Netzwerk aus Zug- und Kompressionselementen. Dieses Netzwerk kann durch visuelle Repräsentation und kinästhetische Aufmerksamkeit trainiert werden.

"The concept of biotensegrity not only offers a theoretical foundation to body mechanics and dynamics, it is also appropriate for establishing a concrete base to develop a process that can be seen as an internal fascial training. We propose mental motor imagery involving visual representation and kinesthetic awareness suggested by the principle of biotensegrity to support movement. The stability of a tensegrity structure is due to the equilibrium between outward pushing of the rigid elements that tense the tension network, and inward pulling of the tension continuum that compresses the rigid elements without letting them touch each other: tensegrity structures can be seen as restrained expansion. Expansion (or space) creates tension. An increase of tension in a tensegrity structure lets it resist and become stronger. The training consists in using mental processes to generate a tangible feeling of the bones as spacemakers and of the space between them. As a result, we can develop the perception of a tensional internal support. Once having found this internal support, it becomes possible to relax' within it. 'Relaxation', far from being a simple 'letting-go', with its well-known effect of collapsing and weakening, is a redistribution of tension within the tensile fascial network with the qualities of space and strength, and a balance of tension. Space, tension, resistance, strength, internal support and relaxation are concomitant, even equivalent, characteristics." S. 139

"By training the kinesthetic perception of the subtle resistance that accompanies the movement, (which is an adaptation from a mental technique used in a Chinese martial art), we enhance all the qualities already mentioned. It is interesting to consider the resistance the result of two opposite movements: the movement actually performed and the counter-movement that slows it down. It is mentally challenging to perceive both simultaneously, but it is this training of the nervous system that results in a profound improvement of fluidity, strength and elasticity of movement. By internalizing theses qualities, you can play with all the directions in space, connecting the spirals continuously in alternatively small or large movements, in slow or fast rhythms, which more overtly addresses the omnidirectionality of the fascial network, its elasticity and its ability to react to different impulses such as stretch or vibration. A characteristic of this training is the use of minimal muscular strength." S. 141

"It means that mental imagery allows us the use of muscular work in a remarkably economical manner to achieve optimal movement efficiency and ease. With time movements become naturally supported by the internalized principles of biotensegrity: the perception of internal space as well as the feeling of the ubiquitous tension that governs the mechanics of the body lead to a maximal recruitment of the structure under optimally balanced tension. Consequently, movements become freer and more efficient, be it in movement disciplines, in daily activities, or in a therapeutic setting. An additional consequence of this approach to body structure and movement is to create a useful relationship to gravity. Instead of being a force that compresses our organism and makes us small and bent, gravity becomes a force that initiates space and strength in our structure." S. 141

Stephen M. Levin und Danièle-Claude Martin, Biotensegrity - The mechanics of fascia. In: The Tensional Network of the Human Body, 1st Edition - The science and clinical applications in manual and movement therapy, Schleip & Findley & Chaitow & Huijing, Churchill Livingstone - Elsevier, 2012

Mehr Informationen zu Biotensegrity/Biotensegrität bei michaelditsch.de


Literatur

Buchtipp: Locker sein macht stark

Wer seinem Körper mechanisch ausgeführte Übungen abverlangt, wird auf Dauer keine Geschmeidigkeit erreichen. Denn Bewegung beginnt im Kopf und nicht im Muskel! Der phantasievolle Weg dorthin heißt Ideokinese: Mit Hilfe von Imagination können wir kraftvoll auf Körper und Geist einwirken, ungeahnte Energien frei werden lassen und spielerisch beweglich sein. Eric Franklins undogmatische und originelle Angebote für Beweglichkeit vertrauen auf die Kreativität des Einzelnen, fördern ein neues Körperbewusstsein und mobilisieren Selbstheilungskräfte. Mit genussvollen Übungen für den Alltag. Geeignet für jede Altersstufe. © Bild und Text Kösel. Locker sein macht stark - Wie wir durch Vorstellungskraft beweglich werden, Eric Franklin, Kösel, 1998

Buchtipp: Befreite Körper

Stellen Sie sich vor, Ihre Wirbelsäule wäre ein pfeilgerader Wasserstrahl – wie viel angenehmer viele Bewegungen dann wären! Tatsächlich sind Vorstellung und Körperhaltung eng miteinander verbunden, Ihre Gedanken können Ihre Haltung „spürbar“ beeinflussen. Wie leicht das geht und wie Sie Ihre Haltung und Beweglichkeit verbessern, ein neues Körpergefühl entwickeln und Verspannungen lösen können – das bringt der Autor locker und leicht nahe. Mit fast 200 Abbildungen ist Befreite Körper die ideale Lektüre für Körpertherapeuten, Berufs- und Hobbytänzer und für alle, die sich leichter bewegen möcht ... © Bild und Text VAK. Befreite Körper - Das Handbuch zur imaginativen Bewegungspädagogik, Eric N. Franklin, VAK Verlags GmbH, 2012

Buchtipp: Ideokinese

Die "Ideokinese" wurde in den 1920er-Jahren von Mabel Elsworth Todd (Der Körper denkt mit) entwickelt, um die Koordination der Muskulatur zu verbessern. Bis heute bleibt dieser Ansatz einzigartig darin, dass er sich auf die Kraft der Vorstellung verlässt, um neuromuskuläre Muster von Haltung und Bewegung umzugestalten. André Bernard (1924-2003) war einer der Hauptvertreter von Todds Ansatz und hat als Professor an der New York University die Ideokinese seit 1966 an Generationen von Tanz- und Schauspielstudenten weitergegeben. Einige wurden später selbst Lehrer dieser Methode. 1986 stellte er die Ideokinese erstmals in Europa vor und unterrichtete bis zum Jahr 2000 Sommerkurse in der Schweiz und in Deutschland. Das vorliegende Buch enthält neben einem Interview mit André Bernard seine Beschreibung der Arbeitsweise und mit Bildern illustrierte Workshop-Protokolle zum Selbststudium. © Bild und Text Huber Verlag. Ideokinese - Ein kreativer Weg zu Bewegung und Körperhaltung; André Bernard,Ursula Stricker, Wolfgang Steinmüller; Huber Verlag; 2011