Komplexe Systeme

Netzwerke von Netzwerken



Komplex oder kompliziert – gibt es da einen Unterschied? Das habe ich mich schon oft gefragt, wenn ich mal wieder einen Kommentar zu einem Buchtipp geschrieben habe, bei dem es um die Beschreibung von Systemen oder Netzwerken ging. Entscheidend ist, ob es dynamische, zeitliche und wechselseitige Veränderungen gibt. Für einen Laien z.B. ist es eine große Herausforderung den Motor eines Rennwagens zu zerlegen und wieder zusammenzubauen. Ein Experte, wie z.B. ein Kfz-Mechatroniker, kann die Aufgabe bewältigen, da der Experte die komplizierte Bau- und Funktionsweise des Motors verstanden hat. Allerdings wäre es auch für den Kfz-Experten schwierig, den Ausgang eines Rennens vorherzusehen, weil sich die komplexe Rennsituation, in gegenseitiger Abhängigkeit von den Fahrern und ihren Rennwagen, ständig dynamisch verändert.

"Die Quintessenz von komplexen Systemen ist, dass sich die Eigenschaften der Elemente und die Netzwerke zwischen ihnen ständig ändern und sich gegenseitig nach bestimmten Regeln beeinflussen. Der Zustand eines Elements hat Einfluss auf das Netzwerk, und das Netzwerk beeinflusst den Zustand jedes einzelnen Elements." Thurner, Stefan (2020): Die Zerbrechlichkeit der Welt, Wien: edition-a E-Book

Literatur

Buchtipp: Die Zerbrechlichkeit der Welt

Der Klimawandel schreitet voran, die Gesellschaft ist tief gespalten und der Wirtschaft droht ein Kollaps verheerenden Ausmaßes. Der Komplexitätsforscher Stefan Thurner, Berater der österreichischen Bundesregierung bei der Bekämpfung der Corona-Krise, zeigt anhand der Wissenschaft Komplexer Systeme, wie zerbrechlich die Welt geworden ist und wie wir sie mit Hilfe von Wissenschaft und Big Data doch noch zur besten aller Zeiten machen können. Prof. Dr. Stefan Thurner, geboren 1969 in Innsbruck, ist ein Physiker und Komplexitätsforscher. Seit 2009 ist er Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien. Seit 2015 leitet er den Complexity Science Hub Vienna (CSH). Vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten wurde er als österreichischer Wissenschaftler des Jahres 2017 ausgezeichnet. © Bild und Text edition-a. Thurner, Stefan (2020): Die Zerbrechlichkeit der Welt - Kollaps oder Wende. Wir haben es in der Hand, Wien: edition-a E-Book. Kommentar zum Buch bei michaelditsch.de

Begriffe

  • Komplexe Systeme
    "Wenn sich ein Netzwerk über die Zeit hinweg verändert und sich dadurch die Eigenschaften der Komponenten des Netzwerks verändern, dann ist ein System meist auch komplex."
  • Netzwerke von Netzwerken
    "Hinter vielen komplexen System stehen oft mehrere dynamische Netzwerke, die miteinander direkt zusammenhängen und sogenannte »Netzwerke von Netzwerken« bilden."
  • Emergenz
    "Das Phänomen, dass sich die Eigenschaften eines komplexen Systems nicht unmittelbar aus dessen Bauteilen erschließen, nennt man Emergenz. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »herauskommen« und bezeichnet das Hervorkommen von neuen Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente."
  • Makroeigenschaften
    "Man nennt Phänomene, die aus den sogenannten Mikroeigenschaften seiner Bauteile in Kombination mit deren Wechselwirkungsnetzwerken entstehen, die Makroeigenschaften"
    "Komplexe Systeme bilden häufig sogenannte Makroeigenschaften aus. Sie können dabei unterschiedliche Systemzustände einnehmen."
    "Zu den wichtigsten Makroeigenschaften von komplexen Systemen zählen Eigenschaften wie: Stabilität, Robustheit, Effizienz, Resilienz und Anpassungsfähigkeit"
  • Tipping Point
    "Ein Tipping Point oder ein Kipp-Punkt ist ein »Übergangs-Punkt«. Nachdem ein System so einen Punkt erreicht, ist nichts mehr so, wie es vorher war."
    "In allen Systemen, die die Fähigkeit zu einer evolutionären Entwicklung haben, existieren diese Tipping Points. Sie sind unvermeidlich. Und sobald sie erreicht werden, erfolgt ein blitzartiger Übergang von einem Systemzustand zu einem radikal anderen."
  • Robustheit
    "Ein System ist robust, wenn es sich durch einen äußeren Schock nicht verändert, wenn es sich danach genauso verhält und genauso funktioniert wie vor dem Schock."
  • Resilienz
    "Ein System ist resilient, wenn es durch einen Schock zwar getroffen wird und zunächst nicht mehr so gut funktioniert wie zuvor, dass es aber die Fähigkeit besitzt, sich quasi selbst zu reparieren, und nach einiger Zeit wieder zu einer Funktionsfähigkeit wie vor dem Schock kommt."
  • Systemisches Risiko
    "Es ist das Risiko, dass ein System als Ganzes kollabiert. Es beruht darauf, dass der Ausfall eines einzelnen Akteurs im Finanzsystem, zum Beispiel einer Bank, eine Kettenreaktion von Ausfällen auslösen kann. In der Folge fallen weitere Akteure aus, und meist stehen sehr schnell große Teile des Systems still, sodass es seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Im Finanzsystem heißt dieser Stillstand zum Beispiel, dass keine Kredite mehr vergeben werden."
    "Systemisches Risiko im Finanzsystem bedeutet, dass sich selbst ein kleiner Schock entlang der vielen Verbindungen im Finanznetzwerk ausbreiten und bis in die letzte Verästelung unerwünschte oder sogar katastrophale Folgen haben kann. Es bedeutet, dass das Finanzsystem aus einem scheinbar nichtigen, unscheinbaren Anlass quasi über Nacht zerbrechen kann."
  • Carrying Capacity
    "Die Carrying Capacity, oder die ökologische »Tragfähigkeit«, wie sie auch genannt wird, ist die maximale Größe der Bevölkerung, die in einer vorgegebenen Umwelt mit einer zur Verfügung stehenden Menge an Nahrung, sauberem Wasser, Luft, Unterkunft und anderen Ressourcen nachhaltig, also über einen längeren Zeitraum hinweg, überleben kann. Bildlich gesprochen ist es die maximale »Last« an Menschen, die das Ökosystem Erde tragen kann."

Quelle: Thurner, Stefan (2020): Die Zerbrechlichkeit der Welt - Kollaps oder Wende. Wir haben es in der Hand, Wien: edition-a E-Book

Buchtipp: Im Wald vor lauter Bäumen

Die verborgenen Muster von Natur und Gesellschaft erkennen. In einer vernetzten Welt müssen wir vernetzt denken und komplexe Phänomene wie Pandemien, Klimakrise und die Destabilisierung von Ökosystemen als Ganzes in den Blick nehmen. Der Komplexitätswissenschaftler Dirk Brockmann schaut auf die Krisen unserer Zeit, sucht nach Mustern, Gesetzmäßigkeiten und Ähnlichkeiten zwischen ihnen und komplexen Prozessen der Natur. Dabei stellt er höchst aufschlussreiche Verbindungen her – etwa zwischen Waldbränden und Epidemien oder zwischen Goldbrassen auf Futtersuche und Populismus – und zeigt anhand von zahlreichen Beispielen, welche Erkenntnisse wir daraus ziehen können. Sein Fazit: Um die Krisen unserer Zeit zu bewältigen, müssen wir antidisziplinär denken und auf das fundamentale Prinzip der Natur setzen: Kooperation. © Bild und Text dtv. Brockmann, Dirk (2021): Im Wald vor lauter Bäumen - Unsere komplexe Welt besser verstehen, München: dtv

Videos

Univ.-Prof. DDr. Stefan Thurner, Leiter des Complexity Science Hub Vienna und Wissenschaftler des Jahres 2017, spricht über das Thema "Komplexitätsforschung"

What is a Complex System? - Systems Innovation ( 06.05.2017)

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