Epigenetik

Gene sind nicht starr, sondern ein Leben lang formbar

Das zentrale Dogma der Genetik besagt, dass die Gene Lebewesen schaffen und deren Eigenschaften bestimmen. Neueste Erkenntnisse bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms (Gesamtheit aller Erbanlagen eines Organismus) konnten diesen genetischen Determinismus allerdings nicht unterstützten. Die Entwicklung des komplexen menschlichen Organismus lässt sich nicht aus der Tatsache erklären, dass der Mensch mit 25000 Genen sogar 6000 Gene weniger als der primitive Wasserfloh besitzt. Entscheidender ist das Zusammenwirken verschiedenster Mechanismen bei der Genregulation.

Die Schnittstelle zwischen den Genen und der Umwelt ist die Epigenetik. Einflüsse aus der Umwelt wirken sich auf das Erbgut aus. Es entstehen epigenetische Markierungen, welche die Aktivität der Gene beeinflussen.

"'Epigenetik', so die Definition des Molekularbiologen Gary Felsenfeld von den National Institutes of Health in Bethesda (Maryland), 'ist das Studium von mitotisch und/oder meiotisch vererbbaren Veränderungen der Genfunktion, die sich nicht durch Veränderungen der DNA-Sequenz erklären lassen.'" Gene und Umwelt - Spektrum der Wissenschaft Spezial 2/2013, S. 14

"Während der Entwicklung von der befruchtenden Eizelle bis zum Tod sind Organismen vielfältigen äußeren Einflüssen ausgesetzt - von der Nahrung über die elterliche Fürsorge bis zum Wetter. Diese Einflüsse aber können mit Hilfe epigenetischer Mechanismen bis in in die Zellkerne hinein Spuren hinterlassen und weit über den Zeitpunkt ihres Einwirkens hinaus über Gesundheit und Krankheit, über Fähigkeiten und Defizite mitentscheiden, möglicherweise sogar in zukünftigen Generationen. 'Epigenetik', so der deutsche Stammzellforscher Rudolf Jaenisch, der seit fast 30 Jahren am Whitehead Institute in Boston (Massachusetts) forscht, 'ist der Mechanismus der Evolution, über den sich das Erbgut mit der Umwelt unterhält.'" Gene und Umwelt - Spektrum der Wissenschaft Spezial 2/2013, S. 17

"In den zurückliegenden Jahren haben Biologen zahlreiche molekulare Mechanismen entdeckt, die zu einem stärkeren oder schwächeren Ablesen von Genen führen, ohne dass die dort gespeichert Information verändert wird. Dabei markieren Enzyme bestimmte Abschnitte der DNA und beeinflussen so deren Aktivität, manchmal sogar lebenslang. Weil dieser Eingriff nicht die Nukleotidsequenz des DNA-Strangs betrifft, sondern sich 'oberhalb' von ihr abspielt, spricht man von epigenetischen Modifikationen (von griechisch: epi = über)." Gene und Umwelt - Spektrum der Wissenschaft Spezial 2/2013, S. 23

Eingebrannte Erinnerungen

"Warum aber werden Erlebnisse – ob positiv oder negativ – überhaupt auf dem Erbgut abgelegt? Eine mögliche Antwort hat die Entwicklungsbiologie parat: Eine Nervenzelle ist zwar genetisch identisch mit einer Hautzelle, unterscheidet sich jedoch in ihrem Epigenom von ihr. In Neuronen werden zum Beispiel die für die elek­trische Signalübertragung wichtigen Gene epigenetisch eingeschaltet, während sie in Hautzellen abgeschaltet sind. Forscher sprechen hier vom epigenetischen Gedächtnis über die zelluläre Identität, das sich während der vorgeburtlichen und frühkindlichen Entwicklung festgelegt hat. Wenn sich nun Erlebnisse in das Epigenom derart einbrennen, nutzt das Gehirn vielleicht lediglich einen bereits existierenden, äußerst stabilen zellulären Erinnerungsmechanismus." Gräff, Johannes (2021): Eingebrannte Erinnerungen, in: Gehirn&Geist 5/2021, S. 48

Literatur

Lesetipp: Epigenetik

Immer mehr Einzelheiten werden darüber bekannt, wie epigenetische Prozesse die Aktivität von Genen steuern. Bisher wurde vor allem diskutiert, welchen Einfluss die Umwelt so auf unser Erbgut nehmen kann - mit Langzeitfolgen über Generationen hinweg. Doch inzwischen diskutieren Forschende, inwieweit sich diese Erkenntnisse auch gezielt medizinisch nutzen lassen. Wird es also eine Therapie für Gene geben? © Bild und Text Spektrum der Wissenschaft. Epigenetik - Der Sprung in die praktische Anwendung - Spektrum der Wissenschaft Kompakt 45 / 2021

Buchtipp: Wir können unsere Gene steuern!

Wir sind mehr als unsere Gene. Die Epigenetik lehrt: Erfahrungen und unser Lebensstil steuern unser Erbgut. Stress, Traumata, Ernährung und Umwelteinflüsse entscheiden darüber, ob unsere Gene aktiviert oder deaktiviert werden, und bestimmen so unser Schicksal und das unserer Kinder und Enkel. Isabelle M. Mansuy ist eine der renommiertesten Forscherinnen auf diesem Gebiet. Das Buch zeigt wissenschaftlich fundiert und auf Grundlage neuester molekularbiologischer und psychologischer Erkenntnisse, warum unser Genom kein starrer Code ist. Es erklärt anhand vieler praktischer Tipps, wie wir durch gesunde Lebensführung, die Befreiung von Traumata und Vermeidung schädlicher Umwelteinflüsse unser Leben verbessern und unsere Kinder und Kindeskinder schützen können. © Bild und Text Berlin Verlag. Mansuy, Isabelle M. / Gurret, Jean-Michel / Lefief-Delcourt, Alix (2020): Wir können unsere Gene steuern! Die Chancen der Epigenetik für ein gesundes und glückliches Leben, Berlin München: Berlin Verlag

Interview mit Isabelle M. Mansuy bei Spektrum www.spektrum.de/news/epigenetik-ernaehrung-kann-spuren-am-erbgut-hinterlassen/1765144

Lesetipp: Grenzfragen der Genetik

Wie Evolution und Entwicklung zusammenwirken. Die biologische Forschung unserer Zeit gewinnt oft gerade durch scheinbar abwegige Fragen neugieriger Wissenschaftler verblüffende Einsichten. Ein hohes Maß an Interdisziplinarität zählt zu den Markenzeichen sowohl der Evolutionsforschung als auch der Genetik. Bei vielen Fragestellungen arbeiten diese beiden Disziplinen eng verzahnt. Die Epigenetik ist dabei ein besonderes Werkzeug aus der Trickkiste des Lebens: Seit einigen Jahren mehren sich Hinweise, dass sich Umwelterfahrungen auf das Erbgut auswirken und es nachhaltig verändern können. Manches davon wird an die Nachkommen weitergegeben, teils sogar über mehrere Generationen. Das kann auch bei Fettleibigkeit und bei Krankheiten wie Diabetes eine Rolle spielen. Auch in der klassischen Evolutionstheorie gibt es noch so manche Überraschung, und neue Techniken in den Genlabors erleichtern das Arbeiten. Dieses Sonderheft gibt einen Überblick über den Stand der Forschung zu den Themen Epigenetik, Evolution, Entwicklung, Krankheit und Alter. @ Bild und Text Spektrum. Grenzfragen der Genetik - Spektrum der Wissenschaft Spezial Biologie - Medizin - Hirnforschung 2/2017

Lesetipp: Gene und Umwelt

Gene und Umwelt - Was wir werden, was wir sind - Spektrum der Wissenschaft Spezial 2/2013. Die Epigenetik erweitert das seit mehr als einem Jahrhundert diskutierte Verhältnis zwischen Erbanlagen und Umweltfaktoren um eine völlig neue Dimension: die Rückwirkung persönlicher Erfahrungen auf die Ausprägung der Gene. Deshalb steht die Epigenetik im Mittelpunkt dieses Sonderheftes zum Thema "Gene und Umwelt", das aus den Vorträgen des Berliner Kolloquiums der Daimler und Benz Stiftung von 2012 hervorgegangen ist. Lassen Sie sich verblüffen von den aufregenden neuen Erkenntnissen – unter anderem über die erst kürzlich entdeckten epigenetischen Hintergründe der Alzheimerkrankheit. © Bild und Text Spektrum der Wissenschaft.

Lesetipp: Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal - der persönliche Lebensstil prägt Gesundheit und Charaktereigenschaften stärker als gedacht. Das Gedächtnis des Körpers: Sind Gelassenheit, Übergewicht, Intelligenz und Langlebigkeit angeboren? Genfunde nähren den Glauben an die Allmacht der Biologie. Doch nun zeigt sich, wie sehr Umwelteinflüsse die Erbanlagen verändern: Die Gene steuern uns - aber auch wir steuern die Gene, durch unseren Lebensstil. Der Spiegel Heft 32/2010 S. 110.

Lesetipp: Bruch des bösen Zaubers

"Traumatische Erlebnisse im Kindesalter können das Erbgut im Gehirn dauerhaft verändern. Der erschreckende Befund schürt das Interesse am jungen Feld der Epigenetik: Erfahrungen hinterlassen chemische Spuren, die womöglich sogar vererbt werden." Von Jörg Blech, Spiegel 32/2008.

Lesetipp: Was den Menschen prägt

"Eine neue Disziplin, die Epigenetik, räumt mit alten Vorstellungen auf: Gene sind nicht starr, sondern ein Leben lang formbar. Wir selbst können sie durch den Lebensstil, etwa die Ernährung, an- oder ausschalten. Genetisch beeinflussten Krankheiten lässt sich so vorbeugen. Sogar über das eigene Leben hinaus: bei Kindern und Kindeskindern." GEO Magazin Nr. 4/07 - Was den Menschen prägt. www.geo.de/GEO/mensch/medizin/53101.html

Lesetipp: Erbgut in Auflösung

"Auch soziale und materielle Außenfaktoren können einen Menschen auf dem Umweg über die Biologie prägen – indem sie seine Genfunktionen verändern. Durch sogenannte epigenetische Prozesse können offenbar Stress oder Folter, Ernährungsmangel oder Liebesentzug bis in den Zellkern hinein wirken." Erbgut in Auflösung, von Ulrich Bahnsen, DIE ZEIT, 12.06.2008 Nr. 25 www.zeit.de/2008/25/M-Genetik

Buchtipp: Der zweite Code

Der zweite Code - Peter Spork - Epigenetik - oder Wie wir unser Erbgut steuern können. Die Wissenschaftsrevolution des 21. Jahrhunderts. Warum erreicht manch übergewichtiger Kettenraucher ein hohes Alter, während der Gesundheitsfanatiker nebenan früh stirbt? Weshalb sind Mensch und Affe so verschieden, obwohl sich ihr Erbgut fast völlig gleicht? Wieso werden schon im Mutterleib ent scheidende Weichen für die spätere Persönlichkeit eines Kindes gestellt? Diese und viele andere Fragen kann ein neuer Forschungszweig beantworten, die Epigenetik. Ihre revolutionäre Erkenntnis: Gene bestimmen nicht alles. Deren Aktivität lässt sich steuern, und zwar nicht zuletzt durch unseren Lebenswandel. Damit besitzen wir eine bislang ungeahnte Macht über unser körperliches und seelisches Wohlergehen - und das unserer Kinder. © Text und Bild Rowohlt Verlag. Der zweite Code: Epigenetik - oder Wie wir unser Erbgut steuern können, Peter Spork, Rowohlt, 2009

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