Buchtipp: "Psychosomatik zwischen Medizin und Psychotherapie" von Hanne Seemann

Erstellt von Michael Ditsch | | Körper & Psyche

Mit der Seele sprechen lernen

Nicht wenige Menschen leiden unter teils heftigsten ungeklärten Schmerzen, chronischer Erschöpfung, Magen-, Darm- und Atemstörungen oder anderen Symptomen. »Ohne Organbefund« heißt es dann nach einer oft jahrelangen Odyssee durch das Gesundheitssystem. Warum tut uns der Körper so etwas an? Hanne Seemann, Expertin für Psychosomatik seit mehr als 30 Jahren, hat eine einleuchtende, noch viel zu wenig beachtete Erklärung: Über solche Störungen kommuniziert unsere Seele mit uns. Wenn der Mensch und seine Lebensumstände, sei es der Beruf, die Beziehung, der Wohnort o.a. nicht mehr zusammenpassen, wenn Wünsche, Sehnsüchte, Lebensziele hartnäckig verleugnet und nicht gelebt werden, dann spricht sehr oft der Körper zu uns. Wie sich Betroffene selbst auf die Spur kommen oder kluge Fachleute ihre PatientInnen darin unterstützen können, zeigt dieses lebenskluge Buch. © Bild und Text Klett-Cotta. Seemann, Hanne (2022): Psychosomatik zwischen Medizin und Psychotherapie - Mit der Seele sprechen lernen, Stuttgart: Klett-Cotta E-Book

Kommentar

# Erst kürzlich ist es wieder geschehen: Schmerzen im Rücken und in den Beinen. Eigentlich bin ich der Meinung, dass mir so etwas nicht passieren sollte. Seit vielen Jahren treibe ich Sport, mache Körperarbeit, Entspannungsverfahren und beschäftige mich mit psychologischen Themen und Spiritualität (Links siehe unten). Allerdings gibt es scheinbar für alles eine Grenze. Die Schmerzen begannen, als ich vom schweren Unfall eines geliebten Menschen erfuhr. Sprichwörtlich ist mir "der Schreck in die Glieder gefahren" und ich konnte es nicht verhindern. Der Volksmund stellt oft Diagnosen, die sehr zutreffend sind, wie viele Redensarten belegen (Link siehe unten).

# Welt- und Menschenbilder bestimmen unser Denken und Handeln. Vor allem in der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte wirkt immer noch sehr stark die dualistische Betrachtung des Menschen nach, die beispielsweise durch das "ego cogito, ergo sum" (Ich denke, also bin ich) von René Descartes  beschrieben wird. Die Aufspaltung des Menschen in Körper und Geist zeigt sich auch bei der Behandlung von Krankheitssymptomen. So gibt es für alles Spezialisten, die entweder eine biologisch-chemische Sicht auf den Menschen haben oder sich nur mit psychischen Problemen befassen wie z.B. Psychotherapeuten.

# Eine Disziplin, in der die verschiedenen Ansätze zusammengeführt werden, ist die Psychosomatik (altgriechisch psyché = Atem, Hauch, Seele; soma = Körper, Leib). Der Begriff steht für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und bezeichnet eine ganzheitliche Betrachtung von Körper und Seele (Kugelstadt 2020). Mit dem relativ jungen medizinischen Fachgebiet beschäftigt sich das Buch "Psychosomatik zwischen Medizin und Psychotherapie - Mit der Seele sprechen lernen" von Hanne Seemann, das im November 2022 im Klett-Cotta Verlag erschienen ist. Die 1942 geborene Dipl. Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin ist seit 2007 in eigener Praxis tätig (Seemann 2023). Bekannt wurde sie durch ihre Bücher, Vorträge und Publikationen zum Thema psychosomatische Störungen. Wer ihr neues Buch liest, merkt schnell, dass es weit mehr ist als ein Sachbuch über Psychosomatik.

"Und da diejenigen, die schreiben, auch immer über sich selbst schreiben, will ich gleich sagen, dass dieses späte Buch, das letzte, wie ich meine, auch von meinem eigenen Leben handelt, in dem sich die Sehnsüchte meiner Kindheit mehr als erfüllt haben, worüber ich immer wieder und wirklich sehr verwundert bin." (Seemann 2022)

# Hanne Seemann gibt dem Leser einen sehr persönlichen Einblick in ihre Sicht der Psychosomatik, der auch von einer gewissen Altersweisheit geprägt ist. Im ersten Drittel des Buches erläutert sie das medizinisch-therapeutische Versorgungssystem in Deutschland, die Vorgehensweisen von Ärzten und Psychotherapeuten sowie die verschiedenen Psychotherapieformen. Sehr wichtig ist für sie dabei die Unterscheidung, wann eine medizinische, psychotherapeutische oder psychosomatische Behandlung erforderlich ist. Im weiteren Verlauf des Buches steht ihr eigener Ansatz im Mittelpunkt, den sie durch ihre langjährige Auseinandersetzung mit dem Thema und mit ihren Patienten entwickelt hat.

"Die psychosomatische Störung ist ein eigenes Störungsbild und kann deshalb nicht auf ihre somatischen und auch nicht auf ihre psychischen Faktoren reduziert werden, obwohl die immer mehr oder weniger mitspielen – weil eben alles mit allem zusammenhängt. Wir denken ja schon interdisziplinär, wenn wir den Begriff 'Psycho-Somatik' benutzen. Es nützt aber wenig, wenn man die Fähigkeiten der Somatiker mit denen der Psychotherapeuten kombiniert." (Seemann 2022)

# Zur Veranschaulichung verwendet die Autorin Fallbeispiele, Verweise auf Kunst, Literatur und Film, aber auch auf wissenschaftliche Grundlagen. Einige wissenschaftliche Annahmen sind jedoch bereits überholt. Insbesondere die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren zu einem neuen Verständnis des Menschen beigetragen, wie aktuelle Veröffentlichungen von Philipp Sterzer, Anil Seth oder Lisa Feldman Barrett zeigen (Links siehe unten). So gibt es beispielsweise keine Dreiteilung des Gehirns in ein Eidechsenhirn für Instinkte, ein limbisches System für Emotionen und einen Neokortex für rationales Denken. Das Konzept eines "dreigeteilten Gehirns" (Truine Brain) wurde von Lisa Feldman Barrett in ihrem Buch "Seven and a Half Lessons About the Brain" sehr gut diskutiert.

"The truine brain idea and its epic battle between emotion, instinct, and rationality is a modern myth" (Barrett 2020, S. 24)

# In der Therapie ist die korrekte Verwendung wissenschaftlicher Begriffe jedoch nicht notwendig und kann Patienten eher verwirren, wie bereits Andreas Knuf in seinem lesenswerten Buch "Nix wie fühlen!" festgestellt hat (Link siehe unten). Auch die theoretischen Grundlagen der angewandten Therapieform sind bei näherer Betrachtung nicht entscheidend. Bereits meine Ausbildung im Bereich Kampfkunst und Körperarbeit hat mir gezeigt, dass das individuelles Können und die langjährige Erfahrung der Trainer sowie die persönliche Beziehung, entscheidender für den Entwicklungsfortschritt sind als das jeweilige System oder die "reine Lehre". Wenn ich Hanne Seemann richtig verstanden habe, spielt der akademische Hintergrund für sie auch eine eher untergeordnete Rolle.

"Ich finde nämlich, Beratung, Therapie, auch Coaching sind in erster Linie gutes Handwerk." (Seemann 2022)

"Für alle Therapieschulen und die verschiedensten therapeutischen Ansätze – seien sie wissenschaftlich anerkannt oder nicht – sollte als Grundvoraussetzung gelten: Wirksam ist in erster Linie die Beziehung zwischen Patient und Therapeut, auch 'therapeutische Allianz' genannt, die darin besteht, dass der Patient davon überzeugt ist, dass der Therapeut willens und in der Lage ist, ihm zu helfen, dass beide, Therapeut und Patient, Vertrauen in die therapeutischen Fähigkeiten des Therapeuten haben und dass sie an die Wirksamkeit der angewandten therapeutischen Methode glauben." (Seemann 2022)

# Sehr interessant fand ich, dass Hanne Seemann sehr klar zwischen Psyche, Körper und Seele unterscheidet, sie als individuelle, autonome Subjekte sieht und dementsprechend ihre Therapie darauf aufbaut. Krankheiten oder Störungen werden von Hanne Seemann als eine Form der Kommunikation betrachtet, die Aufschluss über mögliche Ursachen und Lösungswege gibt. Die Psyche wird dem Bewusstsein und dem Denken zugeordnet. Sie entwickelt sich im Laufe des Lebens durch die Wechselbeziehung mit der Außenwelt und durch das eigene Denken. Störungen der Psyche sind ein Fall für den Psychotherapeuten. Der Körper zeigt durch psychosomatische Symptome, dass etwas im Leben nicht stimmt. Meist gibt die Art des jeweiligen Symptoms auch Hinweise auf tiefer liegende, grundlegende Lebensprobleme.

# Überrascht hat mich die Verwendung des Begriffs "Seele". Im Buch selbst wird in Kapitel 12 "Seel-Sorge statt Psychotherapie – im Ernst?" erwähnt, dass die Seele kein Gegenstand der Wissenschaft ist: "Man kann sie nicht messen, nicht zählen, nicht wiegen, nicht einmal beobachten ..." (Seemann 2022). In der Medizin und in der Psychologie wird deshalb nicht über die Seele gesprochen. Für Hanne Seemann aber ist die Seele das zentrale und wichtigste Element ihrer Therapie. Im Buch wird der Seele und den Seelentätigkeiten, ihren Sehnsüchten, ihren Orten viel Raum gegeben. Die wichtigen Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Lebensmitte und Alter werden in Kapitel 13 "Der Lebensbogen – wann spricht die Seele besonders laut?" hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Seele und möglicher psychosomatischer Störungen untersucht.

"Bei langanhaltenden psychosomatischen Störungen kommt zwangsläufig die Seele ins Spiel. Und wenn wir vom Körper sprechen, dann meinen wir sinnvollerweise den 'beseelten Leib'. Hildegard von Bingen sagte: 'Sei gut zu deinem Körper, damit deine Seele gern in ihm wohnt.' Nun wird klar, dass 'der Körper' hier als eine umfassende Metapher benutzt wird, die Körper und Seele einschließt, gewissermaßen umfängt." (Seemann 2022)

"Die Seele, die unvergänglich und außerhalb von Raum und Zeit ist, entwickelt selbst keine therapierbaren Störungen, sie ist gewissermaßen unverwundbar. Sie kennt das Leben ihres Menschen vom Anfang bis zum Ende. Sie achtet auf ihren Menschen, und wenn er sich in seinem Leben grundlegend verirrt, schreitet sie ein. Um sich bemerkbar zu machen, benützt sie den Körper, der psychosomatisch reagiert." (Seemann 2022)

# Welches Seelenverständnis Hanne Seemann genau hat, bleibt unklar. Schwierig finde ich aus eigener Erfahrung, wie man unterscheiden kann, ob nun tatsächlich die "Seele" spricht, oder ob sich nicht doch wieder das "Ich-Bewusstsein" (Ego) in den Vordergrund drängt. Ein Problem, das viele spirituelle Traditionen umtreibt, z.B. Viveka (Unterscheidungskraft) im Advaita oder Jnana Yoga (Links siehe unten). Auf jeden Fall berührt der Begriff "Seele" einen Bereich, der weit über die übliche, medizinisch-therapeutische Praxis hinausreicht, dessen existentielle Fragen die Menschen aller Kulturen und Zeiten seit jeher beschäftigen und der in Religion, Mystik und Spiritualität seinen Ausdruck findet. Im mechanistischen Weltbild der modernen Humanwissenschaften (Der Mensch als Maschine) hatten transzendente Themen, die den Menschen in seinem tiefsten Innern berühren und bedrängen, keinen Platz mehr und wurden in die "Esoterik-Ecke" gedrängt. Mittlerweile ist jedoch ein Wandel erkennbar und so wird auch bei Hanne Seemann die Therapie "um eine spirituelle Dimension erweitert" (Seemann 2022). Die bisherige Berücksichtigung von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren bei der Behandlung ist nicht ausreichend.

"Deshalb muss das bio-psycho-soziale Grundmodell um eine vierte Dimension erweitert werden: bio-psycho-sozial-spirituell. Erst damit haben wir es mit dem ganzen Menschen zu tun." (Seemann 2022)

"Worüber sprechen wir also, wenn es um die Seele geht? Über die Liebe, die Sehnsucht, die Schönheit, das Vertrauen in das Schicksal, das Verhältnis zum eigenen Tod – woran man glaubt, wenn einem klar wird, dass man nichts oder nur wenig weiß." (Seemann 2022)

# Das Buch von Hanne Seemann hat mich sehr berührt. Wer selbst eine Lebenskrise mit psychosomatischen Beschwerden durchlebt hat oder gerade durchlebt, wer selbst dem üblichen medizinisch-psychotherapeutischen Betrieb ausgeliefert war oder ist, findet hier Anregungen, um vielleicht einen anderen Blick auf die eigene Situation zu entwickeln.

Hinweise

  • Der Kommentar wurde von mir selbstständig verfasst, ohne Zuhilfenahme eines Chatbots wie z.B. ChatGPT.
  • Das Buch von Hanne Seemann habe ich als E-Book erworben, bei dem die Textdarstellung variabel ist und sich der jeweiligen Bildschirmgröße automatisch anpasst. Bei den Zitaten habe ich deshalb keine Seitenzahlen angegeben und auch auf die Angabe der Kapitel verzichtet.

Quellen

  • Seemann, Hanne (2022): Psychosomatik zwischen Medizin und Psychotherapie - Mit der Seele sprechen lernen, Stuttgart: Klett-Cotta E-Book
  • Seemann (2023): Über mich, [online] www.hanne-seemann.de/Ueber-mich/ [12.02.2023]
  • Kugelstadt, Alexander (2020): "Dann ist das wohl psychosomatisch!" - Wenn Körper und Seele SOS senden und die Ärzte einfach nichts finden - Alles zur Psychosomatischen Medizin, München: Mosaik-Verlag E-Book
  • Barrett, Lisa Feldman (2020): Seven and a Half Lessons About the Brain, Boston: HMH Books

Links

Inhalt

Umschlag
Impressum
Inhalt
Vorwort

  1. Einleitung: Man tut, was man gelernt hat
  2. Psychosomatische Symptome sind etwas ganz Normales – jeder kennt sie
  3. Jeder tut, was er kann – der langwierige Weg durch das therapeutische Versorgungsystem
  4. Jeder tut, was er gelernt hat – was können Psychotherapeuten und was tun sie demzufolge?
  5. Verhaltenstherapie und andere Psychotherapieformen – bezogen auf Psychosomatik
  6. Der Körper als Objekt oder Subjekt? — Therapieverfahren und ihre Beziehung zum Körper
  7. Der Körper ist ein individuelles Subjekt
  8. Die psychosomatische Störung: Alles ist Kommunikation
  9. Wer spricht zu wem?
  10. In der Praxis: Mit dem Körper sprechen!
  11. Die Seele und ihr Körper: Der beseelte Leib
  12. Seel-Sorge statt Psychotherapie – im Ernst? — Das bio-psycho-soziale Modell um die spirituelle Dimension erweitern!
    Über Sehnsucht nachdenken
    Die Seele und ihre Orte
    Die Sehnsucht nach dem Tod
  13. Der Lebensbogen – wann spricht die Seele besonders laut?
    Kindheit
    Jugendliche
    Erwachsene
    Die Lebensmitte
    Alt werden und sterben
  14. Praxis: Der Zeitfaktor in Therapie und Beratung – langwierig oder punktuell?
  15. Die seelische Berührung als Schlüsselerlebnis
  16. Und am Ende: Bleiben Sie gesund!

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Autoreninfo

Buchumschlag Psychosomatik zwischen Medizin und Psychotherapie