Buchtipp: "Self-Cultivation in Early China" von Paul Fischer

Erstellt von Michael Ditsch | | Spiritualität & Lebenskunst

An introduction to ancient Chinese ideas on how to live a good life

Self-Cultivation in Early China is an introduction to multiple aspects of the foundational practice of self-cultivation in early China (c.1000 to 100 BCE). Drawing on the Chinese classics and the dozens of scholars' texts (both received and excavated) that together form the basis of intellectual history for China and all of East Asia, the book's analysis relies on the topics and categories that were central to the thought of these authors, including such well-known thinkers as Confucius and Laozi. This book describes a salient point of view from which we may consider the broader landscape of Chinese intellectual history and presents an important paradigm of the scholarly Chinese worldview that is ideal for comparison with paradigms in other communities, ancient or modern, across the globe. © Bild und Text State University of New York Press. Fischer, Paul (2022): Self-Cultivation in Early China, Albany: State University of New York Press E-Book

Kommentar

# Im Laufe meiner Neigong (內功 Innere Übung) Praxis hatte ich das große Glück, kompetenten Lehrern aus der Volksrepublik China und aus Taiwan zu begegnen und von ihnen unterrichtet zu werden. Das Erlernen von Kampf- und Gesundheitskünsten wurde dabei oft als Teil einer umfassenderen Entwicklung der eigenen Persönlichkeit begriffen, die von meinen chinesischen Gesprächspartner als Selbstkultivierung (Xiu Shen 修身 xiūshēn) bezeichnet wurde. Allerdings beschreibt der Begriff Selbstkultivierung kein einheitliches Konzept, sondern eine Vielfalt von Methoden, die letztlich zu einem "verbesserten" Zustand von Geist und Körper führen sollen.

# "Self-Cultivation in Early China" ist der Titel des neuen Buches von Paul Fischer, welches im Juli 2022 von der State University of New York Press veröffentlicht wurde. Paul Fischer ist Associate Professor für asiatische Religionen und Kulturen an der Western Kentucky University. Seine Interessengebiete sind chinesische Kultur- und Geistesgeschichte, traditionelle chinesische Textkritik und ostasiatische Religionen (WKU 2023). In seinem Buch analysiert Paul Fischer die Bedeutung der Selbstkultivierung in der Zeit des frühen China (von etwa 500-150 v. Chr.) anhand von klassischen Schriften, wie z.B. Chunqiu 春秋 oder Yijing 易經, sowie Texten chinesischer Gelehrter wie z.B. Mengzi 孟子, Xunzi 荀子, Mozi 墨子, Kongzi 孔子, Laozi 老子 oder Zhuangzi 莊子. Die zehn Kapitel des Buches leiten sich aus verschiedenen Themenfeldern ab, welche von Paul Fischer als kennzeichnend für das traditionelle chinesische Verständnis von Selbstkultivierung identifiziert wurden und die sich unter vier Kategorien zusammen lassen: person (人), environment (地), objects (物), cosmos (天).

"Self-cultivation that focuses on the 'person' includes the body, human nature, and the mind. The 'environment' includes virtuosity and timeliness. (I classify virtuosity under 'environment' because virtuosity is primarily a social concern, and therefore most relevant to the social environment.) 'Objects' pertain to those useful to a relevant task, like books that are necessary for learning, and instruments that are needed for music. Finally, relations with the 'cosmos' may be considered via fate, destiny, and spiritousness." (Fischer 2022)

# Schön und gut, aber warum sollten altchinesische Texte über Selbstkultivierung für einen Westeuropäer des 21. Jahrhunderts von Interesse sein? Schon seit vielen Jahren vergleiche ich Veröffentlichungen zu traditionellen philosophisch-spirituellen Lehren aus West und Ost, mit populärwissenschaftlichen Beiträgen über die Forschungsergebnisse und Erkenntnisse der modernen Humanwissenschaften. Damals wie heute kommt ein Mensch als unfertiges Lebewesen auf die Welt und muss sich ein Leben lang durch Lernen an dynamische, physikalische und soziale Umwelten anpassen. Wahrscheinlich ist der Homo sapiens auch die einzige biologische Art, die ein Selbstbewusstsein entwickelt hat und sich ihrer Verletzlichkeit und Endlichkeit bewusst ist.

# Mit existentiellen Fragestellungen zum Wesen des Menschen und zur richtigen Lebensführung haben sich bereits antike Gelehrte auseinandergesetzt. Genauso versuchen heutzutage moderne Forscher menschliche Denk- und Handlungsweisen zu verstehen und Wege für ein "besseres" Leben aufzuzeigen. Gerade die aktuellen Forschungsergebnisse aus Psychologie und Neurowissenschaft, wie z.B. von Philipp Sterzer, Anil Seth oder Lisa Feldman Barrett (Links siehe unten), weisen oft verblüffende Übereinstimmungen mit den Beobachtungen und Schlussfolgerungen früherer Weisen auf. In der Zusammenschau ergibt sich so ein Verständnis des Menschen und seiner Kultur, welches wichtige Impulse für die globalen Herausforderungen unserer Zeit liefern kann. Dies war auch ein wesentliches Motiv von Paul Fischer für seine Publikation.

"The primary reason for writing this book is to convey the breadth and importance of self-cultivation in early China to those who are interested. But there are other reasons why one might come to be interested in this topic. One is that it can increase 'global-mindedness,' that is, the attitude that we are all, in some sense, 'global citizens.'" (Fischer 2022)

"What common ground could there possibly be between twenty-first-century Westerners and some philosophical-minded authors living two and a half thousand years ago, on the other side of the world? They certainly lived very different lives, so doesn’t some of their advice sound suspiciously modern? I think the answer must lie in the modifier 'philosophical-minded.' Some things about the human condition remain relatively constant. How to take care of yourself would certainly count as one of them." (Fischer 2022)

# Neben dem eigentlichen Themengebiet "Selbstkultivierung", ist das Werk von Paul Fischer auch eine hervorragende Lektion über die Problematik der Übersetzung altchinesischer Schriften. Immer wieder gibt er Hinweise und Erklärungen zu den Besonderheiten der chinesischen Sprache und den damit verbundenen Möglichkeiten der Übersetzung und Deutung. Für mich persönlich bestand zusätzlich die Herausforderung der Übersetzung und des Verständnisses des englischen Textes. Sehr gut wird dies in Kapitel 10 "Spiritousness (神)" deutlich. Der chinesische Begriff shen (神 shén) wird von Paul Fischer mit spirit, spirits, spiritousness, spirit/ousness übersetzt, was in der deutschen Sprache Geist, Geister, Geistigkeit oder Spiritualität bedeuten könnte. Eine große Bandbreite von Möglichkeiten der Interpretation, die auch bei anderen Begriffen und ihrer grammatikalischen Einbettung, wie z.B. dao (道 dào way Weg), auftritt. Paul Fischer weist weiter daraufhin, dass es keine Standardisierung für Übersetzungen innerhalb der Sinologie gibt und es daher dem Leser nicht erspart bleibt, Verständnisfragen selbst zu klären.

"The single graph translated as 'spirit' or 'spiritous' conveys the same kind of ambiguity as 'Heaven,' an ambiguity that often lies at the heart of religious poetry. In each case, it is up to the reader to decide if the author is referring to a supernatural entity or to a noteworthy but natural phenomenon." (Fischer 2022)

"It should also be noted that Chinese lacks the definite article 'the' and the indefinite article 'a,' so writing in English of 'a way' or 'the way' is matter of interpretation that necessarily affects translation." (Fischer 2022)

"The most important reason is that the state of the field of Western sinology is not yet to a point where we all, or even most of us, have agreed upon standardized translations, even for central concepts. The field is simply still too young." (Fischer 2022)

# Schon bei meiner Beschäftigung mit dem Daodejing (道德经 Dàodéjīng – Link siehe unten) oder dem Zhuangzi (莊子 Zhuāngzǐ – Link siehe unten) war ich erstaunt über die Vielzahl von Übersetzungen und Interpretationen. Die "eine" Übersetzung kann es nach Ansicht einiger Sinologen auch gar nicht geben wie z.B. Wolfgang Kubin feststellt: "… wir übersetzen immer nur in die Sprache und den Geist der Zeit. Daher kann es nie eine 'richtige' Übersetzung geben, sondern nur eine 'andere'." (Kubin 2013). Es bleiben dem interessierten Laien letztlich die Mühen eigener "Forschungen" nicht erspart, wenn er durch die Lektüre antiker chinesischer Schriften einen Erkenntnisgewinn erhalten möchte.

# Das Werk von Paul Fischer ist in dieser Hinsicht sehr hilfreich, da es kein wissenschaftliches Fachbuch oder ein Beitrag zu einer akademischen Debatte ist, sondern ein breiteres Publikum anspricht. Seine wesentliche Zielgruppe sind US-amerikanische Undergraduates (Studierende eines grundständiges Studiums), was sich in der klaren Strukturierung des Buches und der Eingrenzung der Inhalte zeigt, und dadurch auch dem fachlichen Laien das Leseverständnis erleichtert.

# Ebenso wie heutige Wissenschaftler waren ihre antiken Vorgänger neugierig, intelligent und gut in der Beobachtung des Menschen und seiner Umwelt. Auffälligkeiten und Besonderheiten menschlichen Denkens und Verhaltens wurden auch damals festgestellt und gedeutet. Es wundert daher nicht, dass Paul Fischer Bezüge zu Themen aus der modernen Psychologie herstellt, wenn er z.B. kognitive Verzerrungen (Biases) wie den Dunning-Kruger-Effekt oder den Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) erwähnt. Auch psychische Probleme, welche heute vermehrt durch die Konsumgesellschaft in Verbindung mit der Aufmerksamkeitsökonomie entstehen, waren damals schon aktuell.

"Desires are typically for external things that may be possessed or consumed, and while an ordinary mind is pushed and pulled by these desires, the detached mind remains unmoved until a decision has been made. Zhuangzi uses the phrase 'wandering mind' (遊心) to describe this state, using 'wandering' in the sense of 'freely roaming' (and not in the sense of 'unable to focus'). He explains such 'wandering' as being 'without both that which draws [you] out or invites [you] in' (無有所將,無有所迎)." (Fischer 2022)

# Der Mensch an sich hat sich über die Jahrhunderte kaum verändert. Bereits im alten China wurden die verschiedensten Lebens- und Gesellschaftsmodelle diskutiert, welche die eigene Entwicklung und Gesundheit, aber auch das Gemeinwesen, fördern sollten. War eher die individuelle Freiheit und das Beachten einer natürlichen Ordnung (dao 道 dào) das Ziel, wie es im Zhuangzi zum Ausdruck kommt? Oder sollte man Xunzi folgen, der großen Wert auf Kultur und Bildung legte und daher die Rolle von vorgegebenen, gesellschaftlichen Protokollen und Normen betonte? Sind die Debatten heute so anders? Gerade die globalen Krisen unserer Zeit zeigen, wie der Mensch immer noch um Antworten ringt.

# China und die chinesische Kultur faszinieren mich seit meinen ersten Kontakten und Reisen. Leider hat sich die Volksrepublik China, nach einer Öffnungspolitik in den 2000er-Jahren, durch die Machtübernahme von Xi Jinping zu einer nationalistischen, totalitären Autokratie entwickelt. Gerade deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass in den westlichen Gesellschaften, jenseits von Vorurteilen, Mythen und Klischees, ein umfassendes Verständnis über die kulturelle Entwicklung Chinas vermittelt wird. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet das Buch von Paul Fischer, da es aufzeigt, dass die großen und kleinen Menschheitsfragen auch in der chinesischen Welt die Menschen schon seit jeher beschäftigt haben. Besonders für die Bewältigung unserer globalen Probleme ist ein kulturübergreifender Austausch unbedingt erforderlich. Für diesen Austausch ist die Entwicklung kritischen Denkens und der "Blick über den Brunnenrand hinaus" unabdingbar.

"Critical thinking is especially important, and especially difficult, on texts in which people are emotionally invested. And while Western readers typically may not attach much emotion to texts with which they are unfamiliar (how could they?), Scholars’ texts do carry significant weight in China. Quoting Laozi in China is not unlike quoting Plato, or even the Bible, in the West. We might define 'critical thinking' as the ability to identify and question our own assumptions, with the goal of either substantiating or altering them. In cross-cultural exchanges, this has the effect of moving our thinking from a zero-sum, black and white, 'which narrative is true and which is false?' approach, to one that is centered on a multivalent, 'let’s weigh the evidence' attitude that may well result in critical-minded ambivalence. This way of thinking allows for a deeper engagement with global-mindedness, resulting in a kind of multicultural individual. Global-mindedness and critical thinking, then, should not just be thought of as providing paradigm foils for one’s own cultural assumptions, that is, for checking ethnocentrism: expanding one’s conceptual and literary repertoire is a worthy end in itself." (Fischer 2022)

"Knowing what you prefer is one thing to keep in mind when confronting new data; knowing your own limitations is yet another. Realizing that your own specificity entails significant perspectival blind areas is a major theme of the Zhuangzi. His 'frog in the well' image is especially popular: 'One cannot discuss the ocean with well-frogs [because they] are constrained in space, one cannot discuss ice with summer insects [because they] are limited in time, and one cannot discuss the Way with partisan scholars [because they] are bound by what they have been taught.' (井鼃不可以語於海者,拘於虛也;夏蟲不可以語於冰者,篤於時也;曲士不可以語於道者,束於教也)" (Fischer 2022)

Hinweise

  • Der Kommentar wurde von mir selbstständig verfasst, ohne Zuhilfenahme einer Text-KI wie z.B. ChatGPT.
  • Das Buch von Paul Fischer habe ich als E-Book erworben, bei dem die Textdarstellung variabel ist und sich der jeweiligen Bildschirmgröße automatisch anpasst. Bei den Zitaten habe ich deshalb keine Seitenzahlen angegeben und auch auf die Angabe der Kapitel verzichtet.

Quellen

  • Fischer, Paul (2022): Self-Cultivation in Early China, Albany: State University of New York Press E-Book
  • WKU (2023): Western Kentucky University (WKU) - Department of History Staff - Paul Fischer [online] www.wku.edu/history/staff/paul_fischer [08.01.2023]
  • Kubin, Wolfgang (2013): Zhuang Zi - Vom Nichtwissen, Freiburg: Herder, S. 13

Links

Inhalt

Acknowledgments
Book Title Translations

Introduction

Part I: Person (人)

1. Body (體)
2. Nature (性)
3. Mind (心)

Part II: Environment (地)

4. Virtuosity (德)
5. Timeliness (時)

Part III: Objects (物)

6. Learning (學)
7. Music (樂)

Part IV: Cosmos (天)

8. Fate (命)
9. Destiny (天)
10. Spiritousness (神)

Works Cited
Index

Buchumschlag Self-Cultivation in Early China