Dào 道

Der Lauf des Wassers

Die altchinesischen Welterklärungsmodelle gehen davon aus, dass alles im Universum miteinander in Beziehung steht und einem ständigen Wandel unterliegt. Und dass auch der Mensch "... vom Wasserlauf der Natur nicht abweichen kann. Man bildet sich vielleicht ein, außerhalb oder getrennt vom Tao zu sein, und meint, daß man ihm deshalb folgen oder nicht folgen kann. Aber diese Einbildung selbst gehört zum Strom, denn es gibt keinen anderen Weg als den Weg. Ob wir wollen oder nicht, wir sind dieser Weg und gehen mit Ihm." (Watts 2009: 70)

Der Begriff Dào 道 steht für die oberste Wirklichkeit und allumfassende Wahrheit, der Urgrund von Sein und Nichtsein und innewohnendes Prinzip des Universums zur Schöpfung und Selbstorganisation.

"Das Dao 道 gebiert die Eins. Die Eins gebiert die Zwei. Die Zwei gebiert die Drei. Die Drei gebiert die 'zehntausend Dinge'." (Laozi 2001: Kap. 42)

"Wuji ('das Eigenschaftslose') bezeichnet einen ungestalteten Urzustand, der eine abstrakte Potentialität zur Ordnung besitzt. Durch Wandel ging daraus Taiji ('die Ureinheit') - bei Laozi bezeichnet als Eins - hervor. Taiji enthält das natürliche Ordnungsprinzip Dao, das die Ordnung des Kosmos vollkommen enthält. Taiji ist noch unsichtbar und gestaltlos, es trägt aber in sich die Ordnung zur Gestaltung. Sobald es sich durch weitere Wandlung zeigt, tritt es in Form der Polarität von Yin und Yang - bei Laozi die 2 - hervor. Yin und Yang sind wiederum die Bausteine für die acht Trigramme - bei Laozi die 3 -, deren weitere Kombination die 64 Hexagramme des Yijing bilden und aus denen schließlich die 10.000 Dinge (d.h. alle Dinge im Kosmos) hervorgehen." (Schröcker 2008)

Das Schriftzeichen Dào im Lìshū Schriftstil, welcher zur Zeit der Streitenden Reiche (475 - 221 v. Chr.) entwickelt wurde. Das Dàodéjīng soll im 4. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein. Das Schriftzeichen Dào besteht aus dem Radikal 辶 (vereinfacht ⻌), welcher von 辵 chuò "gehen" abgeleitet ist und dem Zeichen 首 shǒu, das "Kopf" bedeutet.

"Das Wasser gleicht dem dao 道, das man gewöhnlich durch 'Weg' übersetzt, besser aber wohl durch 'Lauf', um das Prozessuale zum Ausdruck zu bringen. Bei 'Lauf' kann man sowohl an das Laufen eines Menschen wie an den Lauf des Wassers, des Lebens, der Dinge bzw. an den 'Lauf der Welt' denken." (Wohlfahrt 2001: 19)

"Der Weg, von dem am Anfang des Laozi die Rede ist, ist aber auch kein Weg, den wir mit eigener Kraft 'wegen' (richten, regulieren, bahnen) oder machen können. Es sei denn, dieses Machen wäre ein Machen ohne zu machen, ein Tun ohne zu tun, ein wei wu wei. Wohl ist dieser Weg ein Weg, den man gehen kann, aber so, dass er sich beim Gehen von selbst macht, ohne Absicht, so wie das Wassers sich von selbst seinen Lauf sucht. Der beständige, ständig sich ändernde Weg ist ein wegloser Weg, ein Weg ohne Weg. Er ist ein Weg, der sich wegen und während des Gehens vielleicht von selbst macht, in dem wir den Weg Weg sein lassen. Beim Gehen ist dieser Weg weg, wir vergessen ihn unterwegs, so geht es am besten. Dieser Weg vollendet sich - von selbst so beim Gehen, [...] Hören wir auf, nach 'dem Weg' zu suchen, zu fragen, ihn zu planen oder gar gewaltsam zu bahnen. Machen wir uns auf den Weg. Frei-gelassen finden wir uns in offener Weite, den Weg unter unseren Füßen." (Zhuangzi 2003: 57)

Quellen

  • Watts, Alan (2009): Der Lauf des Wassers - Eine Einführung in den Taoismus, Frankfurt, M.: Fischer-Taschenbuch-Verl.
  • Der Daoismus und seine Philosophie.
    Vortrag von Reinhold Schröcker. 2008 an der Taiji & Qigong Schule Freising
    (Michael Ditsch, persönliche Aufzeichnung).
  • Weltbilder des alten China.
    Vortrag von Reinhold Schröcker. 2007 an der Taiji & Qigong Schule Freising
    (Michael Ditsch, persönliche Aufzeichnung).
  • Eine Synopse und kommentierte Übersetzung des Buches Laozi sowie eine Auswertung seiner gesellschaftskritischen Grundhaltung.
    Ansgar Gerstner, Dissertation Universität Trier, 2001.
  • Wohlfart, Günter (2001): Der Philosophische Daoismus, Köln: ed. chora
  • Zhuangzi (2003): Auswahl, Einl. und Anm. von Günter Wohlfart. Hrsg.: Wohlfart Günter, Übers.: Schuhmacher Stephan, Stuttgart: Reclam

Evolutionäre Dialektik und Emergenz

"Die Idee, daß alles in einem durchgängigen Evolutionsprozeß entstanden ist, läßt die Wirklichkeit als Einheit erscheinen, dem das Dao als durchdringender Zusammenhang innewohnt. Dies ist die grundlegende Auffassung des Daodejing, die es aus den überlieferten mythischen Vorstellungen und den frühen chinesischen Philosophien kondensiert hat." (Kalinke 2011)

"Im chinesischen Denken spielt Emergenz von vornherein eine entscheidende Rolle. Daß es mindestens zwei unterschiedliche oder gegensätzliche Erscheinungsformen der Natur gibt, ist ihm aus dem dualistischen Denken der magisch-animistischen Zeit vertraut geblieben. Das Daodejing behauptet, mit dem Begriff des 'Dao' als durchdringendem Einen sei ein Zusammenhang zwischen den Phänomenen gegeben, der zwar nicht in Formeln ableitbar, doch anhand der Genese der Dinge wahrnehmbar ist. Aus ihm heraus hat sich alles entwickelt und zu ihm wird alles - aus Gründen der Symmetrie - wieder zurückkehren." (Kalinke 2011)

Kalinke, Viktor (2011): Nichtstun als Handlungsmaxime - Studien zu Laozi Daodejing, Bd. 3, Leipziger Literaturverlag, Leipzig: Ed. Erata S. 159-161

Literatur

Buchtipp: Der Lauf des Wassers

Das Buch des großen englischen Religionsphilosophen Alan Watts führt in die alte chinesische Weisheitslehre des Taoismus ein. Die ernsthafte, wissenschaftlich fundierte Übersetzung der Originaltexte und Grundbegriffe wird mit einer souveränen Leichtigkeit der Deutung verbunden. Genau dafür steht Alan Watts, der ein unkonventioneller Gelehrter war und wesentlich dazu beigetragen hat, dass bei einem westlichen Publikum Interesse und Verständnis für die östlichen Weisheitstraditionen nachhaltig geweckt worden ist. © Text und Bild Fischer Verlag. Der Lauf des Wassers: Eine Einführung in den Taoismus (Broschiert). Von Alan Watts (Autor), Susanne Schaup (Übersetzer). Fischer (Tb.), Frankfurt; Auflage: 1 (12. Januar 2009). ISBN-10: 3596180449 ISBN-13: 978-3596180448

Buchtipp: Das Tao der Weisheit

Die vorliegende Schrift stellt erstmals wortgemäße, sinngemäße und poetische Übersetzung synoptisch neben das chinesische Original samt Lautschrift und erleichtert so auch neuen Freunden des Tao den Zugang. Fortgeschrittene finden vielfache Anregungen zur Vertiefung in Fußnoten, dem Vergleich mit den jüngsten Manuskriptfunden Mawangdui und Guodian sowie einer umfangreichen weiterführenden Quellensammlung (auch audiovisuell und internetbezogen). Und nun: Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt! Kap. 64. © Text und Bild Mainz Verlag. Das Tao der Weisheit: Laozi - Daodejing - Hilmar Klaus. Mainz Verlag, 2008, ISBN: 978-3810700414.

Buchtipp: Der Philosophische Daoismus

Unser Denkweg nach Ostasien ist eine philosophische Einbahnstraße. In weiter Ferne scheint noch immer der Tag zu liegen, an dem es zu einem philosophischen Gedankenaustausch mit dem fernen Osten kommt, bei dem beide Seiten voneinander lernen. In den vorliegenden komparativen Studien wird der Versuch gemacht, den herrschenden Eurozentrismus und ideologischen Kolonialismus zu überwinden. Durch Untersuchungen zu Grundbegriffen im Daodejing (Taoteking) des Laozi (Lao-tse) wird in den philosophischen Daoismus eingeführt, der zu Zeiten der Spätmoderne auch im Westen zunehmend Beachtung findet. © Text und Bild edition chora. Der Philosophische Daoismus, Günter Wohlfart, ISBN 3-934977-05-7, 2001, edition chora, verlag köln

Buchtipp: Zhuangzi

Zhuangzi gehört mit Kongzi (Konfuzius) und Laozi (Laotse) zu den klassischen chinesischen Denkern. Er vertritt eine Spielart des Daoismus, die mit den Lehren Epikurs zu vergleichen ist, der ebenfalls "im Verborgenen lebte", nicht politisierte und lachend philosophierte. Zhuangzi, auch bekannt als Dschuang Dsi oder Tschuang Tse, wurde ca. 365 - 290 v. Chr. geboren. Sein Werk gilt als eine der literarisch schönsten und anspruchsvollsten Wortschöpfungen der chinesischen Geistesgeschichte. Die Texte werden vom Herausgeber ausführlich kommentiert. © Text und Bild Reclam. Zhuangzi - Hrsg.: Wohlfart Günter, Übers.: Schuhmacher Stephan, Reclam Verlag, 2003, ISBN: 978-3-15-018256-7

Buchtipp: Nichtstun als Handlungsmaxime

Zur Rationalität des Mystischen. Essay - Inwieweit folgt die moderne Reflexion der Folgen sozialen und politischen Handelns archaischen Mustern? Was können wir aus einer 2300 Jahre alten Schrift lernen über die Durchsetzung globaler Wirtschaftsmechanismen und eine Welt, die sich komplexen Zusammenhängen öffnet? Gibt das berühmte Daodejing des Laozi tatsächlich Antworten auf unsere heutigen Fragen oder sind es vielmehr wir selbst, die, verführt von den Übersetzern, unsere eigenen Antworten in das Buch hineinprojizieren? Auf scheinbar mystische Weise wohnt dem Daodejing die Fähigkeit inne, uns die Antworten zu entlocken, die wir benötigen. Den altchinesischen Philosophen zeichnet aus, daß er mehrere Sichtweisen gegenüber der Wirklichkeit einzunehmen vermag, ohne sich an eine fest zu klammern. Er wechselt zwischen den Perspektiven, wenn es die Situation erfordert oder anbietet. In diesem Essay geht Viktor Kalinke der Frage auf den Grund, wie mehrdeutige Formulierungen sowohl zur sozialrevolutionären als auch zur spirituellen Wirkung des Daodejing geführt haben und bis in die Gegenwart zur Neuauslegung anregen. © Bild und Text Leipziger Literaturverlag. Nichtstun als Handlungsmaxime, Studien zu Laozi Daodejing Bd. 3, Viktor Kalinke, Leipziger Literaturverlag, 2011.

Buchtipp: Tao Te Puh

Was für ein Puh? Was für ein Tao? Das Tao Te Puh, in dem uns enthüllt wird, daß einer der größten chinesischen taoistischen Meister nicht etwa ein Chinese ist - auch kein altehrwürdiger Philosoph, sondern wirklich und wahrhaftig kein anderer als der absichtslos in sich ruhende, stille, einfältige kleine Bär. I-Ah ist mürrisch und Ferkel ängstlich und Kaninchen schlau und Eule professoral, nur Puh ist einfach so, wie er ist. Und genau das ist der Schlüssel zu der geheimen Weisheit des Taoismus. © Text und Bild Synthesis. Tao Te Puh - Das Buch vom Tao und von Puh dem Bären, Benjamin Hoff, Synthesis Verlag, 2002, ISBN 3-922026-30-3

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Ein Dao, von dem man reden kann, ist nicht ein beständiges Dao. Ein Name, den man nennen kann, ist nicht ein beständiger Name. Das Namenlose ist der Anfang von Himmel und Erde.
Laozi Kap. 1 (Übers. Gerstner)