Mantra

Jenes, was das Denken übersteigt



Durch meine Sozialisation und schulische Prägung, war ich in jungen Jahren eher naturwissenschaftlich orientiert und stand Bereichen wie Spiritualität, Religion oder der sogenannten "Esoterik" eher skeptisch gegenüber. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Trotz teilweise berechtigter Kritik an der "Wissenschaft", halte ich die wissenschaftliche Methodik, insbesondere die Möglichkeit der Falsifizierung, für hilfreicher, als das blinde Befolgen von unhinterfragten Regeln dogmatischer oder ideologischer Systeme. Allerdings praktiziere ich auch seit meiner Jugend asiatische Kampf- und Gesundheitskünste und bin dadurch mit den entsprechenden philosophisch-spirituellen Themen und Schriften in Berührung gekommen. Mittlerweile hat sich der Vergleich traditioneller Lehren mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, zu einem meiner wichtigsten Interessengebieten entwickelt. Die neuesten Forschungsergebnisse der modernen Neuro- und Kognitionswissenschaften zeigen, dass insbesondere buddhistische, daoistische und hinduistische Gelehrte, gute Beobachter des Menschen und seiner Welt waren. Auf Grundlage dieser Beobachtungen entstanden in diesen traditionellen Systemen Methoden, welche die spirituelle Entwicklung des Menschen unterstützen und fördern.


"Mantra m oder n heilige Silbe, kraftgeladenes Wort, oder mehrere Silben bzw. Wörter. Es werden verschiedene etymologische Erklärungen für das Wort Mantra gegeben, z.B. 'Werkzeug des Denkens' oder 'jenes, was das Denken übersteigt.' Die Sanskrit-Wurzel man, denken, steckt auch in dem Wort manas, Geist, Denken, welches verwandt ist mit lat. mens und deutsch mental." (Huchzermeyer 2013, S. 173)

"Die permanente Wiederholung eines bestimmten Wortes, einer Formel stundenlang, jahrelang, ein Leben lang ist eine Praktik, die wir nicht nur im Hinduismus finden, sondern auch in anderen Kulturen. So wissen wir zum Beispiel, dass die christlichen Mönche auf dem Berg Athos in Griechenland noch heute stundenlang einzelne Gebetsformeln rezitieren. Während es die natürliche Neigung des Geistes ist, sich in vielen Richtungen zu zerstreuen und vielfältigen Impulsen nachzugeben, hat das Mantra die Funktion den Geist zu stabilisieren." (Huchzermeyer 2013, S. 174)

Huchzermeyer, Wilfried (2013): Das Yoga-Lexikon - Sanskrit - Asanas - Biografien - Hinduismus - Mythologie, Karlsruhe: edition sawitri


"Das Mantra ist am wirksamsten, wenn es still im Geiste wiederholt wird. Sie brauchen es nicht laut zu chanten, und es erfordert keine festgelegten Zeiten, keinen bestimmten Ort, auch keine besondere Ausrüstung. Wiederholen Sie still Ihr Mantra, wann immer Sie Gelegenheit dazu bekommen: beim Spazierengehen, beim Warten, beim Erledigen mechanischer Hausarbeiten wie etwa dem Geschirrspülen - und besonders während Sie einschlafen. Sie werden feststellen, dass das keine stupide Wiederholung ist; das Mantra wird Ihnen helfen, den Tag über entspannt und geistig hellwach zu bleiben, und wenn Sie abends darüber einzuschlafen vermögen, wird es auch die ganze Nacht hindurch für Sie weiterarbeiten." (Easwaran 2010, Einführung)

"Wann immer Sie zornig sind oder sich ängstigen, nervös oder beunruhigt sind oder grollen: Wiederholen Sie das Mantra, bis die Gemütserregung sich legt. Das Mantra wirkt daraufhin, den Geist in ruhiger Gleichförmigkeit zu halten, und diese Gefühlswallungen bilden allesamt eine gegen Sie anstürmende, Ihnen heftig entgegenwirkende Energie - das Mantra kann sie nutzbar machen und für Sie arbeiten lassen. Schließlich steht das Mantra in Zusammenhang mit einem umfassenderen System spiritueller Disziplinen: mit bewährten Techniken, die wir alle in die Praxis umsetzen können, um unser Leben reichhaltiger, zielgerichteter und erfüllender zu gestalten. Mithilfe dieser Techniken, deren grundlegendste und zugleich den Einstieg bildende die Meditation ist, können wir uns die gewaltigen Ressourcen in unserem Innern zunutze machen, um unsere Persönlichkeit ganzheitlich werden zu lassen und einen dauerhaften Beitrag zum Leben zu leisten - in der tagtäglichen Gewissheit, dass wir von unseren Mitmenschen gebraucht und geschätzt werden." (Easwaran 2010, Einführung)

Easwaran, Eknath (2010): Das Mantra-Buch - Zauberworte für alle Lebenslagen, München: Arkana eBook


Bija Akshara

Bija Akshara (Bija – Same, Keim; Akshara – Buchstabe, Silbe, Laut)

"Ein Bija Mantra besteht im Allgemeinen aus einer einzigen, seltener aus mehreren Silben. Der Bija Mantra kaṃ hat beispielsweise nur einen Buchstaben inklusive Anusvara bzw. Chandrabindu (mit dem alle Bija Mantras enden). Im Chandrabindu gehen Nada (Klang; hier der Urlaut, aus dem das Universum entstand) und Bindu (Punkt; Essenz; Same) ineinander über. Manche Bija Mantras bestehen aus zusammengesetzten Buchstaben, wie zum Beispiel hrīṃ. Bija Mantras haben oft keinerlei erkennbare, sondern nur eine signifikante innere, feine, mystische Bedeutung. Die Form des Bija Mantras ist die Form seiner Gottheit." (Swami Sivananda 2017)

"OM (ॐ – oṃ). oṃ besteht aus den drei Buchstaben a – u – ṃ. Es bezeichnet die drei Zeitzustände; die drei Bewusstseinszustände; die gesamte Existenz. A steht für 'Virat' und 'Vishva' – der Wachzustand; das kosmische Bewusstsein in der Schöpfung und das individuelle Bewusstsein. u steht für 'Hiranyagarbha' und 'Taijasa' – der Traumzustand; das subtile astrale Bewusstsein; das individuelle astrale Traumbewusstsein. ṃ steht für 'Ishvara' – den Zustand des Tiefschlafs; das kosmische kausale Bewusstsein; den Schöpfergeist; das individuelle Bewusstsein auf der Kausalebene, wo es Prajna (Gottesbewusstsein) erlangt. Um die Bedeutung von oṃ in allen Einzelheiten zu verstehen, sollte man die Mandukya-Upanishad studieren." (Swami Sivananda 2017)

"HRIM (ह्रीं – hrīṃ). Mit diesem Bija Mantra wird Mahamaya bzw. Bhuvaneshvari verehrt. ha (h) steht für Shiva; ra (r) steht hier für Prakriti; ī steht für Mahamaya; ṃ ( ँ) bzw. Nada + Bindu stehen für das, was Sorgen und Leid zerstört." (Swami Sivananda 2017)

"KLIM (क्लीं – klīṃ). Mit diesem Bija Mantra werden Kamadeva (Gott der Liebe, des Verlangens) und Krishna verehrt. ka (k) steht hier für Kamadeva bzw. Krishna; la (l) steht hier für Indra; ī steht hier für Zufriedenheit und Befriedigung. ṃ ( ँ) bzw. Nada + Bindu stehen für das, was Sorgen und Leid zerstört." (Swami Sivananda 2017)

"GAM (गं – gaṃ). Mit diesem Bija Mantra wird Ganesha verehrt. ga steht für Ganesha; ṃ (ँ) bzw. Nada + Bindu stehen für das, was Sorgen und Leid zerstört." (Swami Sivananda 2017)

Swami Sivananda (2017): Japa Yoga - Theorie und Praxis der Mantras, Horn-Bad Meinberg: Yoga Vidya Verlag, eBook


Om lokāḥ samastāḥ sukhino bhavantu

Om Mögen alle Wesen in allen Welten glücklich sein und Frieden finden

Om Urklang der Schöpfung
lokāḥ लोकाः Welt
samastāḥ समस्ताः Alle verbunden - in Harmonie vereinigt
sukhino सुखिनो Freude und Glück
bhavantu भवन्तु mögen sie sein

Om śrī gurubhyo namah hāri om

Om Gruss an die ehrbaren Lehrer Hari Om

Om Urklang der Schöpfung
śrī श्री respektvoll-ehrende Anrede
gurubhyo गुरुभ्यो an die Lehrer
namah नमः Ehrerbietung, Verbeugung
hāri हरि Das Göttliche
Om Urklang der Schöpfung

Literatur

Buchtipp: Japa Yoga

Mantra Yoga gilt als einer der machtvollsten, einfachsten, sichersten und schnellsten Wege zu dieser Selbstverwirklichung. In Indien ist es der populärste und doch mysteriöseste Aspekt des Yoga, der zumeist nur mündlich von Lehrer/in auf Schüler/in weitergegeben wurde und wird. Über diese wichtige Yoga-Art gibt es in der reichhaltigen deutschsprachigen Yoga-Literatur nur sehr wenig. Diese Lücke füllt dieses Buch "Japa Yoga" aus der Feder des indischen Meisters Swami Sivananda ganz vorzüglich. © Bild und Text Yoga Vidya Verlag. Swami Sivananda (2017): Japa Yoga - Theorie und Praxis der Mantras, Horn-Bad Meinberg: Yoga Vidya Verlag, eBook

Buchtipp: Das Mantra-Buch

Der große spirituelle Lehrer Easwaran vermittelt die Mantra-Praxis so, wie die Mantras selbst sind: einfach, konzentriert und mit einer Klarheit, die unmittelbar bis ins Unbewusste wirkt. Jeder kann dem ohne Vorwissen folgen. Easwaran erklärt, was ein Wort oder eine Wortfolge zu einem Mantra macht, wie man "sein" Mantra findet, wann und wie man es (nur in Gedanken) aussprechen soll, und wie uns diese einfache Übung mit unserer Kraft, Ausdauer und Liebe verbindet. © Bild und Text Arkana. Easwaran, Eknath (2010): Das Mantra-Buch - Zauberworte für alle Lebenslagen, München: Arkana eBook

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Mandukya-Upanischad

  1. AUM steht für die höchste Wirklichkeit. Es ist ein Symbol für das, was war, was ist
    und was sein wird. AUM symbolisiert außerdem,
    was jenseits von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegt.
  2. Brahman ist alles, und das Selbst ist Brahman.
    Dieses Selbst hat vier Bewusstseinszustände.
  3. Der erste wird Vaishvanara genannt: In ihm
    lebt man mit durchweg nach außen gewendeten Sinnen,
    nur der äußeren Welt gewahr und inne.
  4. Taijasa ist der Name des zweiten,
    des Traumzustands, in dem man, bei durchweg nach innen
    gewendeten Sinnen, die Eindrücke vergangener Taten
    und gegenwärtiger Begehren in Szene setzt.
  5. Prajna nennt man den dritten Zustand, den Tiefschlaf,
    in dem man weder träumt noch begehrt.
    In Prajna gibt es den Geist nicht und keine
    Getrenntheit; aber der Schlafende ist sich dessen
    nicht bewusst. Möge er zu Bewusstsein kommen
    in Prajna: Das öffnet gewisslich die Tür
    zum Zustand bleibender Freude.
  6. Prajna, allmächtig und allwissend,
    wohnt als der Herrscher in den Herzen aller Wesen.
    Prajna ist der Ursprung und das Ende aller Wesen.
  7. Der vierte ist der überbewusste Zustand namens
    Turiya, weder nach innen noch nach außen gekehrt,
    jenseits der Sinne und des Verstandes:
    In ihm gibt es keinen anderen als den Herrn.
    Er ist das höchste Lebensziel. Er ist
    unendlicher Friede, grenzenlose Liebe. Realisiere ihn!
  8. Turiya wird symbolisiert durch AUM.
    Obzwar unteilbar, hat es doch drei Laute.
  9. A steht für Vaishvanara. Jene, die das wissen,
    erlangen durch Beherrschung der Sinne
    die Früchte ihrer Begehren und ebenso Größe.
  10. U deutet Taijasa an. Jene, die das wissen,
    erreichen, indem sie sogar ihre Träume beherrschen,
    Gegründetsein in Weisheit. In ihrer Familie führt ein jeder das spirituelle Leben.
  11. M entspricht Prajna. Jene, die das wissen,
    finden, indem sie den Geist beruhigen, ihre wahre Gestalt
    und regen alle ringsum an, zu wachsen.
  12. Das Mantra AUM steht für den höchsten Zustand
    Turiya, teilelos, jenseits von Geburt
    und Tod, Symbol immerwährender Freude.
    Jene, die AUM als das Selbst erkennen, werden das Selbst;
    wahrlich werden sie das Selbst.

    OM Shanti Shanti Shanti

Quelle: Easwaran, Eknath (2008):  Die Upanischaden, München: Wilhelm Goldmann Verlag eBook